Fokus: Innovationen in der medizinischen Versorgung

Medizinische Innovationen wecken bei Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzten große Hoffnungen. Leider erfüllt sich besonders im Krankenhaus diese Erwartung beim Einsatz von innovativen Medizinprodukten nicht immer. Sie werden auf den Markt gebracht, ohne dass man über ihre tatsächliche Wirksamkeit, ihre Haltbarkeit oder ihre Anwendungsrisiken ausreichend Bescheid weiß.

Patientinnen und Patienten, die sich behandeln lassen, erwarten heute zu Recht eine qualitativ hochwertige, sichere, sachgerechte und ausreichend erprobte medizinische Versorgung. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist es, dass die Versicherten Leistungen erhalten, die mit dem medizinischen Fortschritt Schritt halten.

Neue Leistungen der GKV – kurz erklärt

Das bestehende Verfahren setzt bei Innovationen auf wissenschaftliche Bewertungen, sog. evidenzbasierte Medizin. Leider funktioniert es besonders im Krankenhaus beim Einsatz von innovativen Medizinprodukten nicht immer. Gerade zum Markteintritt gibt es vergleichsweise wenig verlässliches Wissen über die neuen Produkte oder Verfahren. Dennoch gelangen neue Medizinprodukte in der Regel über die Krankenhäuser flächendeckend in die Versorgung.

Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten verbinden mit Innovationen die Hoffnung, dass neue Verfahren und Produkte weniger invasiv sind, weniger Nebenwirkungen haben oder durch sie die Heilungschancen steigen. Der Bedarf an medizinischen Innovationen wächst daher stetig – mit der Konsequenz, dass immer öfter Produkte mit neuen Materialien oder neuartigem Wirkmechanismus als innovativ und dringend erforderlich auf den Markt gebracht werden, ohne dass man über ihre tatsächliche Wirksamkeit, ihre Haltbarkeit oder ihre Anwendungsrisiken ausreichend Bescheid weiß.

  • Die Mitralklappe des Herzens schließt nicht mehr richtig? Statt aufwendig zu operieren, könnte man nun unter Einsatz eines Katheters die Klappensegel mit einem Clip zusammenheften und damit die Öffnung verkleinern.
  • Der Blutdruck bleibt trotz intensiver Medikamentengabe zu hoch? Ein implantierbarer Nervenstimulator oder ein Gerät zur Verödung von Nervenbahnen an den Nieren verspricht Abhilfe.
  • Die Implantation eines Einkammer-Herzschrittmachers ist nötig, aber es soll aus kosmetischen Gründen kein Schrittmacheraggregat im Unterhautfettgewebe unterm Schlüsselbein sichtbar sein? Dem ließe sich abhelfen, indem ein kleiner Schrittmacher mit Aggregat mittels Kathetereingriff direkt in die Herzkammer eingesetzt wird.

Jede dieser Innovationen klingt vielversprechend – aber bei ihrer Einführung blieben wesentliche Risikofragen unbeantwortet.

Unterschiedliche Zugangswege

Im Krankenhaus gilt der sogenannte Verbotsvorbehalt. Das heißt, Innovationen können ohne vorausgehende Prüfung ihres Nutzens eingesetzt werden, so lange sie der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht ausgeschlossen hat. Dieser gesetzliche Rahmen schafft jedoch leider grundlegende Fehlanreize. Denn er entlässt Hersteller und Krankenhäuser aus der Verantwortung, frühzeitig aussagekräftige Studien zum Nutzen oder Schaden der jeweiligen Methode durchzuführen. Es gilt das Prinzip Hoffnung: Was neu und vielversprechend ist, wird schon besser und nebenwirkungsärmer sein als die bisherigen Behandlungsmethoden.

In der Versorgungspraxis entsteht dadurch eine Eigendynamik. Je länger Innovationen angewendet werden, desto mehr etablieren sie sich, ohne dass sich an der unzureichenden Datenlage etwas ändert. Nach mehrjähriger Anwendung im Klinikalltag glauben Ärzte und auch Patienten, dass die Methode langfristig sicher und auch wirksam sei. Andernfalls – so die Fehlannahme - wäre sie ja nicht bereits jahrelang in der Versorgung. Der Nutzen wird einfach vorausgesetzt. Beispielhaft seien hier die permanente interstitielle Brachytherapie beim Prostatakarzinom und die Anwendung der Positronen-Emissions-Tomographie für Therapieentscheidungen beim rezidivierenden kolorektalen Karzinom genannt.

Erst wenn es Bedenken über den Nutzen einer Krankenhausmethode gibt und ein entsprechender Bewertungsantrag gestellt wird, nimmt der G-BA eine Nutzenbewertung vor. Bis zur Entscheidung, ob die Methode ausgeschlossen wird, kann sie weiterhin in Krankenhäusern angewendet werden. Nur wenn Studienergebnisse zeigen, dass die Methode nicht das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative hat, insbesondere weil sie schädlich oder unwirksam ist, wird die Methode durch den G-BA aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen – in der Regel gegen den Widerstand der Krankenhausvertreter im G-BA. Auch dazu müssen allerdings aussagekräftige Studienergebnisse vorliegen. Im September 2016 hat der G-BA nach mehrjährigen kontroversen Beratungen die Anwendung von Stents in verengten intrakraniellen Blutgefäßen weitgehend aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen, nachdem die Ergebnisse zweier randomisierter und kontrollierter Studien einen Schadensnachweis erbracht hatten. Die Methode war allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits viele Jahre in der Versorgung und das Schadenspotenzial der Methode seit über fünf Jahren bekannt.

Niedergelassene Vertragsärzte dürfen, anders als Krankenhäuser, neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erst dann zu Lasten der GKV anwenden, wenn diese vorab durch den G-BA bewertet und „genehmigt“ wurden. Man spricht hier vom sogenannten „Erlaubnisvorbehalt“. Dies betrifft vor allem Methoden, die einen neuartigen Behandlungsansatz darstellen und nicht bloß auf einer Weiterentwicklung der eingesetzten Produkte basieren. Nach der aktuellen Rechtslage darf der G-BA nur solche Methoden in die vertragsärztliche Versorgung einschließen, deren Nutzen hinreichend belegt ist.

Nutzenbewertung

Seit 2012 kann der G-BA eine Erprobung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden veranlassen, wenn die vorliegenden Erkenntnisse noch keine abschließende Nutzenbewertung erlauben, jedoch das Potenzial einer erforderlichen Alternative vorliegt. Außerdem können auch Medizinproduktehersteller oder sonstige Unternehmen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Erbringung einer Methode haben, beim G-BA eine solche Erprobung beantragen. Bisher wurde jedoch mit keiner einzigen Erprobung begonnen - obwohl es an Bemühungen dazu nicht gefehlt hat.

Hersteller und Krankenhäuser hatten bisher leider kein großes Interesse, aussagekräftige Erprobungsstudien durchzuführen oder an ihnen teilzunehmen. Denn die Methode kann im Krankenhaus auch ohne Erprobung angewendet werden. Ganz im Gegenteil bestünde sogar ein Risiko, dass bei ungünstigen Erprobungsergebnissen die Anwendung durch den G-BA eingeschränkt oder ausgeschlossen würde. Bestenfalls würde lediglich der bereits bestehende Vergütungsstatus für die Innovation im Krankenhaus erhalten. Rein ökonomisch heißt das: Eine Studie kostet Geld, bringt jedoch keinen Gewinn. Im schlechten Fall beeinträchtigt sie den Absatz – so sie ungünstige Ergebnisse für die Methode zutage bringt. Leidtragende sind die Patienten, weil aussagekräftige Daten zu den neuen Verfahren nicht erhoben werden und es unklar bleibt, welche Patienten von den Innovationen profitieren – und welchen eher geschadet wird. Dies gilt in ähnlichem Maße auch für den niedergelassenen Bereich. Der G-BA kann seit 2012 auch für ambulante Methoden Erprobungen beschließen und die meisten herstellerseitigen Erprobungsanträge beziehen sich auf Methoden, die ambulant erbracht werden könnten. Aber auch hier ist es bisher nicht zu Erprobungen gekommen, zumeist weil die Hersteller den damit verbundenen Aufwand und die Kosten gescheut haben.

Ob sich an dieser Zurückhaltung in den kommenden Jahren etwas ändert, wird man sehen. Seit dem Sommer 2019 müssen die Krankenkassen bei Erprobungen, die der G-BA beauftragt, alle Studienkosten übernehmen. Das finanzielle Risiko für ein Scheitern der Erprobung trägt dadurch nicht länger der Hersteller, sondern die Versichertengemeinschaft. Diese Änderung des gesetzlichen Rahmens könnte die Erprobungsregelung für Hersteller attraktiver machen, zu mehr Erprobungsanträgen und vielleicht auch zu tatsächlichen Studien führen. Auf diese Weise könnte sich wenigstens die wissenschaftliche Datenlage für die Bewertungen des G-BA verbessern.

Für Medizinprodukte-Methoden „hoher Risikoklasse mit besonders invasivem Charakter und neuem theoretisch-wissenschaftlichen Konzept“ gibt es seit 2016 eine neue gesetzliche Regelung. Der G-BA bewertet danach bestimmte Methoden, sobald Krankenhäuser dafür erstmalig eine zusätzliche Vergütung beanspruchen. Darunter fallen z. B. Medizinprodukte, die mit dem Herzen, dem zentralen Nervensystem oder dem zentralen Blutkreislauf in Kontakt kommen oder die durch Energieabgabe wesentlichen Einfluss auf eine Organfunktion nehmen und deren Wirkmechanismus neuartig ist.

Die Bewertung hat innerhalb von wenigen Monaten abgeschlossen zu sein. Ist der Nutzen nicht belegt, erlässt der G-BA eine Erprobungsrichtlinie und Krankenhäuser, die die Methode anwenden wollen, sind zur Teilnahme an der Erprobung verpflichtet. Dieses Vorgehen soll den Einsatz neuer Methoden mit Medizinprodukten sicherer machen.

Die Regelung hat allerdings zwei Haken: Erstens bleibt der Verbotsvorbehalt bestehen und alle interessierten Krankenhäuser sollen die Gelegenheit haben, die Methode auch im Rahmen von – für den Erkenntnisgewinn eigentlich unnötigen – „Begleitstudien“ anzuwenden. Zweitens ist der Geltungsbereich extrem eingeschränkt und gilt nur für wenige Hochrisiko-Medizinprodukte, die bestimmte Kriterien erfüllen müssen. Die große Mehrheit der Innovationen fällt nicht unter diese Regelung und wird damit auch nicht geprüft. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Hersteller und Krankenhäuser das Risiko einer solchen Bewertung so sehr scheuen, dass keine entsprechenden Anträge gestellt wurden. Der Gesetzgeber hat darauf mit einer Änderung des Rechtsrahmens reagiert, die Anforderungen an die Bewertung massiv abgesenkt und die Verpflichtung von Krankenhäusern, sich an Erprobungsstudien zu beteiligen, aus dem Gesetz gestrichen. Der gesamte Rechtsrahmen hat somit seine Relevanz eingebüßt.

Blick über den Tellerrand

Dass man ganz anders mit innovativen Medizinprodukten und Verfahren umgehen kann, zeigen verschiedene Beispiele aus dem Ausland. Die Lösung lautet „bedingte Erstattung“. So haben beispielsweise die Krankenversicherungen in Holland den Einsatz bestimmter Stentretriever zur Behandlung eines akuten Schlaganfalls lediglich im Rahmen einer klinischen Studie vergütet. Die Studie mit dem Namen „MR CLEAN“ konnte aufgrund dieser Bedingung in Rekordzeit erfolgreich beendet werden – und lieferte überzeugende Hinweise auf einen Nutzen der geprüften Medizinprodukte. Auch in anderen Ländern wird das Prinzip erfolgreich verwendet, eine Erstattung an klinische Studien zu koppeln, um aussagekräftige Ergebnisse über den Nutzen neuer Verfahren und Produkte zu erhalten.

Innovationen unter kontrollierten Studienbedingungen einsetzen

Mit den Erprobungsregelungen und der systematischen Bewertung von bestimmten Hochrisiko-Medizinprodukten hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren erste Schritte in die richtige Richtung gemacht. Jetzt ist es Zeit, diesen Weg fortzusetzen und die Rahmenbedingungen zur Einführung von Innovationen im Krankenhaus konsequent weiterzuentwickeln.

Die Anforderungen an Innovationen im Krankenhaus weiter so niedrig zu halten wie bisher, ermöglicht zwar Patienten einen frühzeitigen Zugang zu neuen Verfahren. Es setzt sie jedoch zugleich der Gefahr aus, dass kein ausreichendes Wissen über Risiken und Gefahren gewonnen wird. Die bestehenden Regelungen zum Verbotsvorbehalt im Krankenhaus sollten deshalb zu einem System weiterentwickelt werden, das sicherstellt, dass Innovationen ohne Nutzenbeleg ausschließlich im Rahmen aussagekräftiger klinischer Studien in die Versorgung eingeführt werden.

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